Pianisten sind ständig untreu
April 2015
Oliver Schnyder ist der erfolgreichste Schweizer Pianist. Am Donnerstagabend debütiert er – endlich – beim Berner Symphonieorchester, nächste Woche geht er mit dem BSO auf England-Tournee.
Herr Schnyder, sind Sie ein bescheidener Mensch, oder sehen Sie nur so aus?
OLIVER SCHNYDER: Das müssen eigentlich andere beurteilen. Ich glaube aber schon, dass ich viele Schweizer Tugenden vereine. Und Bescheidenheit gehört dazu.
Für eine Karriere in Ihrem Metier nicht gerade förderlich.
Stimmt. Aber das ist auch eine Zeiterscheinung. Viele von den grossen alten Pianisten sprachen offen über ihre Zweifel und Ängste. Heute kommuniziert man das weniger. Wenn einer den Mut hat zuzugeben, dass er mit sich kämpfen muss, wird er schnell als bescheiden taxiert.
Sie haben keine Schnellstartkarriere gemacht. Hat das mit Schweizer Tugenden – oder Untugenden – zu tun?
Das glaub ich schon, ja. Ich hatte sehr früh sehr hohe Ansprüche. Es ist nicht so, dass mir jemand sagen musste: Oliver, du solltest etwas ehrgeiziger sein. Aber in der Schweiz ist es halt so, dass man seine talentierten Leute mit distanzierter Vorsicht behandelt.
Und entdeckt wird man dann im Ausland.
Genau, das war bei mir auch so. Mein erstes grosses Debüt hatte ich in Washington kurz vor Ende meines Studiums. Erst danach durfte ich in Zürich spielen, mit dem Tonhalle-Orchester. Das war ein Traum für mich.
Heute gelten Sie als erfolgreichster Schweizer Pianist. Wird man damit eigentlich reich?
Nicht wirklich. Aber Geldsorgen habe ich keine.
Gibt es Werke, die Sie nur noch unter Folterandrohung spielen?
Ja, das b-Moll-Konzert von Tschaikowsky. Ich höre es gerne, aber ich spiele es nicht gerne.
Weshalb?
Ich finde, dass die Form im ersten Satz nicht trägt. Der Satz ufert aus.
Also schlecht komponiert.
Nein, eigentlich eher zu gut. Es hat zu viele Ideen drin. Im Übrigen ist es wie bei anderen Werken des russischen Repertoires: Ich denke, das können andere besser.
Streicher haben ein geradezu inniges Verhältnis zu ihren Instrumenten. Wie ist das bei Pianisten?
Ich glaube, dass die Pianisten die Musiker sind, die am wenigsten eng mit ihrem Instrument verwachsen sind. Wir umarmen es auch nicht wie die Streicher. Und wir sind ständig untreu, in praktisch jedem Konzert spielen wir auf einem anderen.
Aber sie haben sicher ein eigenes Zuhause, das Sie innig lieben.
Ich habe sogar zwei – aber das sind eher Arbeitsesel. Es gab schon Pianisten, die ihre Macken hatten. Artur Rubinstein hatte stets Haarspray dabei und sprayte die Tasten ein, um genügend Grip zu haben beim Spielen. Mir liegt ein solches Verhältnis zum Instrument eher fern.
Ist Werktreue für Sie eine Kategorie?
Absolut. Alles andere wäre...
...arrogant?
Nein, nicht zwingend. Es gibt Leute, die haben eine Art von Genialität, die eigentlich alles legitimiert. Aber das sind die wenigsten. Unsere Aufgabe ist es, zu erfassen, was da vor vielen Jahren komponiert und gedacht wurde, das ist Werktreue. Aber wir müssen das Komponierte in unsere heutige Zeit transportieren, dass es Sinn ergibt für ein modernes Ohr.
Sie gehören offenbar nicht zu den Fanatikern, die sich alte Hammerklaviere anschaffen, um den «Originalklang» zu suchen.
Eigentlich nicht. Aber ich bin jetzt drauf und dran, mir ein Pianoforte von Bechstein aus den 1890er-Jahren zu kaufen.
Was erhoffen Sie sich davon?
Gerade bei Werken des späten Brahms ist es wirklich frappant: Das geschmeidige Legato, das man sich bei modernen Instrumenten richtig erkämpfen muss, geht da ganz leicht, ohne Arbeit, ohne Kraft.
Woran liegt das?
Die heutigen Klaviere spiegeln die Musealisierung des Betriebs. Sie sind so gebaut, dass man damit das ganze Repertoire aus Jahrhunderten spielen kann. Früher wurden die Instrumente so gebaut, dass man stets die jeweils neusten Werke spielen konnte. Was heute in der Popmusik die Regel ist, war ja früher in der sogenannten Ernsten Musik nicht anders: Man hat sich vor allem für das interessiert, was gerade aktuell war.
Stichwort Popmusik: Es wird gemunkelt, Sie würden von den Beatles noch mehr verstehen als von Beethoven.
Das mag sein (lacht). Ich hab mich schon sehr mit den Beatles beschäftigt.
In Ihrer musikalischen Biografie: Waren da erst die Beatles oder Beethoven?
Schon Beethoven. Am Sonntagmorgen zum Frühstück liefen bei uns die Sinfonien. Meine Eltern haben die klassische Musik mit mir entdeckt und sind in denselben Sog geraten. Erst als meine Mutter beim Staubsaugen ABBA hörte, merkte ich, dass es auch noch andere Musik gibt.
Und?
Ich fand sie schrecklich vulgär und habe sie verachtet.
Trotzdem fanden Sie den Weg zu den Beatles.
Eines Tages, ich war elf oder zwölf, brachte mein Vater «Abbey Road» nach Hause. Das war eine Erweckung. Fortan ging ich immer eine neue Beatles-CD kaufen, sobald 30 Franken Taschengeld beisammen waren. Trotzdem bin ich Beethoven und dem Klavier treu geblieben.
Hätten Sie Beethoven gerne mal getroffen?
Oh ja. Eine Klavierstunde von Beethoven zu kriegen, das wäre das grösste. Auch beim Komponieren hätte ich ihm gerne zugeschaut. Beethoven hat ja am Boden komponiert. Dazu habe er Orangen gegessen, sagt man.
Nun spielen Sie das zweite Beethoven-Konzert mit dem Berner Symphonieorchester. Es heisst, er sei selber nicht überzeugt davon gewesen.
Das glaube ich nicht. Sonst hätte er nicht noch 1815 eine wahnsinnige Solokadenz dafür komponiert. Das zweite ist eines meiner liebsten. Und für Chefdirigent Mario Venzago gilt das übrigens auch. Es ist ein alter Traum von uns, das zusammen aufzuführen.
Nächste Woche gehen Sie mit dem BSO auf England-Tour. Allerdings kommen Sie nur bei zwei von fünf Konzerten zum Einsatz. Was machen Sie dazwischen? Shoppen?
Diese Frage hab ich mir noch gar nicht gestellt. Aber wahrscheinlich werde ich ein wenig Kräfte sparen. Bis Juni bin ich danach pausenlos unterwegs, mit Konzerten ist es momentan wirklich verrückt. Also – shoppen klingt ganz gut.