F. Chopin
Etude A minor, op. 25/11
2009

Oliver Schnyder – im Dialog bis zum Bier an der Bar

Oktober 2016


Oliver Schnyder, Sie wirken so freundlich und bescheiden, wie man es in Porträts über Sie liest. In dieser Saison spielen Sie mit dem Luzerner Sinfonieorchester alle Klavierkonzerte von Beethoven – und da heisst es: Showtime für den Solisten. Wie geht beides zusammen?

Meine Rolle in diesen Konzerten verstehe ich anders und keineswegs als Show.

Aber Beethoven demonstrierte in den ersten Konzerten seine Virtuosität als Pianist!

Sicher, brillante Virtuosität ist dort ein Bestandteil des Ausdrucks. Und damit habe ich keine Schwierigkeiten, obwohl ich privat wohl tatsächlich ein bescheidener Mensch bin. Als Musiker entäussere ich mich auf der Bühne wie ein Schauspieler. Das ist das Spannende an der Kunst: dass sie uns transformiert in etwas, das uns als Privatperson übersteigt. Das gilt bis hin zu Äusserlichkeiten. Leute, die mir nach Konzerten gratulieren, stellen öfters fest, dass ich ja gar nicht so gross sei, wie ich am Flügel wirke!

Der Pianist Leif Ove Andsnes spielte ebenfalls alle Beethoven-Konzerte im KKL. Das verdeutliche, wie der Solist bis hin zum fünften als Individuum wichtiger werde. Beginnt mit Beethoven der unbescheidene Individualismus?

Ich sehe das genau umgekehrt. In den ersten beiden Konzerten setzt der Solist mit einem eigenen Thema ein – hier wird am ehesten noch dem sich selbst genügenden Virtuosen geschmeichelt. Schon das dritte, vor allem aber das vierte und fünfte Konzert erfordern zwar ein zunehmend grösseres technisches Arsenal und physische Kraft. Aber da wächst proportional das Orchester mit! Hier Individuum, dort Kollektiv: Dieses Modell wird abgelöst durch ein sinfonisches Miteinander, an dem sich Solist und Orchester gleichermassen beteiligen und aufgeilen.

Ein starkes Wort!

Ja, aber nur starke Worte werden dem gerecht, was in den Konzerten mit Beethoven abgegangen sein muss. Am spontansten spürt man das in den Kadenzen, die er improvisiert und nachträglich aufgeschrieben hat.

Führen Sie das mit eigenen Improvisationen weiter?

Nein, weil man dem Genie Beethovens in den Kadenzen so hautnah begegnen kann. Die Kadenz etwa zum frühen Konzert op. 19 ist ein Höhepunkt der Klaviermusik überhaupt. Beethoven schrieb sie Jahrzehnte später, um die Zeit der Hammerklaviersonate op. 106, mit der er sich den Weg zum visionären Spätwerk bahnte. Auf dieses weist auch der langsame Satz dieses B-Dur-Konzerts voraus. Ich mag dieses besonders, weil es den Bogen schlägt vom Frühwerk zu den Anfängen des Spätwerks.

Die erste Aufführungsserie aller Konzerte beginnt jetzt mit Kammermusik-Fassungen auf dem Pilatus. Stehen Sie da gegenüber fünf Streichern mehr im Zentrum?

Nein. Als mich der Intendant Numa Bischof anfragte, ob ich mit dem Luzerner Sinfonieorchester alle Beethoven-Konzerte machen und auf CD aufnehmen würde, dachte ich reflexartig: Was für eine Ehre! Aber auch: Kann ich dazu etwas Persönliches beitragen? Wir haben dafür eine Form der Zusammenarbeit gesucht, die uns erlaubt, eine gemeinsame Sprache für Beethoven zu finden, wofür im Probenalltag die Zeit fehlt.

Wie sieht dieser Alltag aus?

Üblicherweise kommt der Solist am Vortag zur Probe, am Konzerttag zur Hauptprobe. Man verständigt sich auf Tempi und reibungsloses Zusammenspiel, trifft sich stets in der Mitte. Zeit für detaillierteres Arbeiten oder gar für Experimente bleibt kaum. Aber genau das lassen die kammermusikalischen Aufführungen zu. Da bin ich also weniger der Solist, sondern ein Primus inter pares. Diesen gemeinschaftlichen Charakter unterstreicht der Aufführungsort: Im Hotel Kulm Pilatus spielen wir nah am Publikum wie in einem der Salons im 19. Jahrhundert.

Und die Kammermusik-Konzerte sind die Grundlage für die Auftritte mit Orchester am Ende der Saison?

Ja, aber deren Bedeutung geht darüber hinaus. So spiele ich auf dem Pilatus jeweils am Vortag in einem Nachtkonzert Klaviersonaten und andere Werke Beethovens aus der Entstehungszeit der Klavierkonzerte. Das gibt einen weiteren Einblick in die Entwicklung, die Beethoven in diesen vollzogen hat. Und die Kammerkonzerte sind die Voraussetzung für ein Werkstattkonzert, in dem wir Ausschnitte aller Konzerte mit dem Orchester unter James Gaffigan vorstellen.

Da wird das Orchester mit Ihnen ohne vorgängige Probe spielen. Wie verträgt sich das mit dem Qualitätsanspruch an ein solches Grossprojekt?

Das ist tatsächlich ein Experiment. Aber weil in den Kammermusikkonzerten meine Partner die Stimmführer des Orchesters sind, können sie das ans Orchester weitergeben. Zudem gehe ich vorher mit James Gaffigan alle Konzerte durch. Und wir werden bei dieser Werkstatt auch das Spiel unterbrechen, um etwas zum Publikum zu sagen.

Wie wichtig ist Ihnen diese Publikumsnähe?

Ich finde solche Formen in der heutigen Zeit enorm wichtig. In Baden veranstalte ich zum Beispiel die Konzertreihe «Piano District», bei der die Pianisten nach ihrem Auftritt mit einem humorigen Fragebogen des Schriftstellers Alain Claude Sulzer konfrontiert werden. Das lockere Gespräch schafft eine faszinierende Nähe zum Publikum. Das lange Verweilen und Diskutieren nach den Konzerten ist bei uns zum festen Bestandteil geworden. Auf dem Pilatus könnte das ähnlich funktionieren, wenn man sich nach dem Konzert zu einem Bier an der Bar trifft. Das ist nach dem Konzert schliesslich fast das Wichtigste. (lacht)

Da dürfte die Frage kommen, welche «gemeinsame Sprache» Sie für Beethoven gefunden haben. Bei Streichern stellt sie sich mit Blick auf die historische Aufführungspraxis und das Vibrato. Was sagen Sie dazu als Pianist?

Die historische Aufführungspraxis hat riesige Verdienste, aber sie wird meiner Meinung nach bisweilen auch überschätzt. Wenn einem Interpreten eine griffige oder berührende Aussage gelingt, ist es mir egal, mit welchen Mitteln er sie erreicht. Trotzdem beschäftigt mich die Frage als Pianist. Was das Vibrato für die Streicher, das ist für uns Pianisten das Pedal, das einen gespielten Ton nachklingen und modellieren lässt.

Wie setzten Sie dieses ein?

Beethoven wirft besondere Probleme auf, weil damals kein Komponist so ausgiebige Pedalvorschriften machte wie er. Demnach müsste man zum Beispiel im langsamen Satz des dritten Konzerts das Pedal über das ganze Thema hinweg halten. Beim modernen Flügel ergibt das keinen Sinn, weil das den Klang über harmonische Wechsel hinweg völlig verwischt. Und doch muss ich Beethovens Vision dahinter klanglich nachvollziehen. In dem Fall wäre das etwa die Vorstellung eines spätherbstlichen Morgennebels, durch den – beim auffälligen Pedalwechsel auf die Zwischendominante – ein erster Sonnenstrahl aufs Wasser fällt.

Mit einem historischen Instrument wäre das leichter zu realisieren?

Wir überlegen uns tatsächlich, für die abschliessenden Konzerte mit dem Orchester ein historisches Instrument zu verwenden – den Bechstein-Flügel, den András Schiff für seine Aufnahme der Diabelli-Variationen verwendet hat. Ja, dieses Beethoven-Projekt ist ein Abenteuer. Das beginnt schon vor dem ersten Konzerttag. Da fliegt der Flügel, auf dem ich spiele, buchstäblich – per Helikopter auf den Pilatus!

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