F. Chopin
Etude A minor, op. 25/11
2009

Bote und Botschaft

November 2017

Oliver Schnyder und Alain Claude Sulzer im Gespräch.

SULZER: Beethoven besaß Klaviere aus den unterschiedlichsten Manufakturen. Sie stammten aus Deutschland, Österreich, Frankreich und England. Wie man weiß, gab er je nach Epoche mal dem einen, mal dem anderen Instrument den Vorzug. War er auf der Suche nach dem idealen Klavierklang?

SCHNYDER: Ja, das kann man bestimmt so sagen. Beethoven haderte zeitlebens mit den klanglichen Einschränkungen der zeitgenössischen Klaviermodelle. Obwohl – massgeblich auf sein Betreiben – große Fortschritte in Bezug auf Klangvolumen und Lautstärke erzielt wurden, wich seine anfängliche Begeisterung darüber bald der Enttäuschung, denn die Erweiterung der klanglichen Möglichkeiten ging immer auch auf Kosten anderer Qualitäten. Die Zeit für die klavierbauerische "Quadratur des Kreises“, mit der Jan Caeyers in seiner lesenswerten Biographie Beethovens Ansprüche an das ideale Klavier vergleicht, war schlicht noch nicht gekommen. 

Kann man von seinen Kompositionen auf diesen Idealklang schließen?

Abgesehen davon, dass es den Idealklang in der Musik gar nicht gibt, treibt mich folgendes um: Beethovens schleichender Hörkraftverlust bis zur vollständigen Taubheit ging sozusagen im tragischen Gleichschritt mit den klanglichen Fortschritten im Klavierbau einher. Je physischer der Klavierklang wurde, desto körperloser, innerlicher wurde sein Hören. Der „Idealklang“ entfaltete sich weniger am Können der Klavierbauer als aufgrund dieser Innerlichkeit des Hörens oder Horchens.

Man scheint übereingekommen zu sein, dass der Steinway, wie wir ihn heute kennen, dieser Idealvorstellung am ehesten entspricht: kraftvoll, klar, leichtgängig, brillant. Inzwischen hat  man sich darauf besonnen, dass es durchaus auch andere Klavierklangwelten gibt. Wie kamst Du darauf, den Steinway, von dem du ja selber zwei besitzt, gegen einen Bechstein auszutauschen?

Der moderne Steinway hat die Quadratur des Kreises vollzogen. Ich bin ziemlich sicher, dass Beethoven mit mir darin einig ginge. Der Steinway macht das ganze musikalische Ausdrucksspektrum möglich, er ist - sofern fachmännisch und artgerecht gehalten – in aller Regel mindestens so gut wie die Finger, die seine Tasten bedienen. Der Nachteil der Perfektion ist die Etablierung eines – und jetzt kommt der Begriff erneut – „Idealklangs“, an den wir uns auch dank der ebenso perfektionierten Aufnahmetechnik gewöhnt haben. Ich finde, dies sei in derart starkem Maße geschehen, dass die Pianisten heutzutage Gefahr laufen, sich künstlerisch einzuschränken, indem sie diesem “globalen Idealklang” unbewusst entsprechen wollen. Die Idee, die Beethoven-Konzerte auf einem „historischen“ Instrument zu spielen, trug ich seit geraumer Zeit mit mir herum, spätestens seit ich selbst einen Bechstein-Flügel aus dem Jahr 1890 bei mir zuhause stehen habe, auf dem sich „mein“ Beethoven sehr natürlich anfühlt. Die eigentliche Wahl nahm ich zwei Wochen vor dem Konzertzyklus vor. Neben drei großartigen Steinways standen da noch ein hervorragender Bösendorfer der neusten Generation und der 1921er Bechstein, der über eine lange Zeit mit Wilhelm Backhaus auf Tournee war. Ich hatte zwar die Qual der Wahl, aber dem Bechstein, bei dem alle Teile – inklusive Saiten – noch original sind, habe ich Klänge entlocken können, die so auf den modernen Instrumenten nur über technische Kompromisse möglich sind. Beethovens Pedalanweisungen beispielsweise funktionieren aufs Schönste. Die Mittellage hat eine tragende Sonorität, sie singt und bleibt gleichzeitig jederzeit transparent. Die Bässe sind kraftvoll, aber trocken, der Diskant silbern. Dass die hohe Lage nicht die Strahlkraft der modernen Instrumente aufweist, ist für den heutigen Hörer wohl am gewöhnungsbedürftigsten. Meinem Beethovenspiel kommt diese Gewichtung der Register sehr entgegen. Sie findet ihr klangliches Zentrum in der Mitte, nicht an der Peripherie. Auch meine starke Prägung durch meinen Lehrer Leon Fleisher, der als Artur-Schnabel-Schüler eine entsprechende Ästhetik an uns weitergegeben hat, begünstigte meine Wahl. Fleisher mahnte uns Schüler oft, die Diskantlage nicht zu strapazieren, verglich sie mit alpinen Höhen, in denen die Luft auch dünner werde… 

Was heißt strapazieren? Die ist ja nun einmal komponiert? 

Vereinfacht gesagt: Der Automatismus, lauter zu werden, wenn die Melodie nach oben geht respektive ein Diminuendo in umgekehrter Richtung, entsprach in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einem ästhetischen Ideal, dem auch ich mich während meiner Ausbildung zu beugen hatte. Bestimmt wurde dieses Ideal durch die nie dagewesene Brillanz der neuen Instrumente angeheizt, einfach weil sie möglich wurde.  Mir wollte diese Art Stilisierung des Klangs nie so recht behagen. Für mich ist sie das Gegenteil der Natürlichkeit der menschlichen Gesangsstimme. Man stelle sich den Tenor vor, der seine ganze Arie auf die Durchschlagskraft seiner Kopfstimme trimmen würde!

Von Anne Sophie Mutter weiß man, dass sie die Lord Dunn-Raven von Stradivari spielt; jeder kann nachlesen, dass Joshua Bell auf der einst Bronislaw Hubermann aus der Garderobe gestohlenen Gibson ex Hubermann spielt. Mal abgesehen davon, dass kein Flügel der Welt vier Millionen Dollar wert ist und, anders als eine Geige, auch nicht so leicht geklaut werden kann: Warum spielt die Herkunft von Tasteninstrumenten heute im Bewusstsein der interessierten Öffentlichkeit keine Rolle mehr?

Tasteninstrumente sind nicht so glamourös, entweder stehen sie tagein, tagaus zuhause im stillen Kämmerlein oder in den großen Konzerthäusern, wo sie sich stoisch wechselnden Partnern hingeben. Alle sehen sie gleich aus, sie werden – anders als die Geigen und Celli – von den Exponenten der Solistenzunft nicht umarmt, geschweige denn allabendlich liebevoll in Samt gebettet. 

Es wäre eigentlich gar nicht so schlecht, den Flügel nach getaner Arbeit mal vor versammeltem Publikum liebevoll zu tätscheln. Ich nehme an, zu Hause tust du das manchmal, wenn Du zufrieden bist.

Wenn ich denn je zufrieden wäre! Die Beziehung zwischen dem Pianisten und seinem Instrument ist wesentlich platonischer und eignet sich daher nicht zur Legendenbildung.

Aber es müsste den Zuhörer doch interessieren, dass es ein Leben vor dem Steinway gab. Beziehungsweise eines nach Cembalo und Hammerklavier. Im übrigen: dessen Klang ist mindestens so erotisch wie jener der anschmiegsameren Geige.

Über Erotik lässt sich ja schlecht streiten. Aber das Interesse an der Evolution des Klavierklangs nimmt doch rapide zu. Im übrigen muss ich anfügen, dass selbstverständlich auch alte Steinways erhalten geblieben sind, deren klangliche Charakteristika meinen Vorstellungen ebenso gut entsprochen hätten.

Wie spielt sich denn der Bechstein, auf dem du die Konzerte aufgenommen hast? Ist es für dich eine Kletterpartie oder eher ein Spaziergang, ihn zu spielen? Wie war deine Erfahrung während des Konzerts in dem akustisch hochgerüsteten KKL, das nur noch wenig mit jenen Konzertsälen zu tun hat, für die diese Art Flügel konzipiert wurden?


Der Backhaus-Bechstein machte mich gehörig arbeiten, und natürlich war ich mir der fast herkulischen Aufgabe bewusst, in einem Saal mit 1800 Menschen auch die hintersten Plätze erreichen zu müssen. Mein Flüssigkeitsverlust pro Auftritt war dementsprechend höher als sonst.

Es gab Zuhörer, die mit dem Klang, wie er in den oberen Rängen ankam, unzufrieden waren. Andere wie ich dagegen waren davon sehr angetan. Man glaubte, mehr Holz zu hören als beim oft gläsernen Steinway.

In der Tat erhielt ich nach dem ersten Abend, an dem das 1. und das 4. Konzert auf dem Programm standen, von Freunden auch durchaus gutgemeinte negative Rückmeldungen. Darauf, dass meine Wahl nicht nur Beifall ernten würde, war ich natürlich gefasst. Ich selber hatte zwar keine Möglichkeit, mich auf dem hintersten Sitzplatz zu hören, aber ich hatte früh die Gewissheit, dass die Eigenarten und Möglichkeiten des Instruments nicht nur mein Spiel, sondern die Interaktion mit dem Dirigenten und dem Orchester prägten. So wurde ich mit den wunderbarsten Pianissimi, den federndsten Akzenten beschenkt, die ich mir wünschen konnte! Und auch das Aufnahmeteam liebte den Klang. Hätte dieses sich nach der ersten Probe gegen das Instrument ausgesprochen, hätte ich mich geschlagen gegeben. Ich fand es aber interessant, dass die Strahlkraft des Flügels nur am ersten Abend wirklich in Frage gestellt wurde. An den folgenden zwei nicht mehr. Das Instrument schien sich mit jedem Abend wohler zu fühlen im Saal – und ich auch.

Du hast also mehr als eine Arbeitsbeziehung dazu entwickelt. Eine Liebesbeziehung? Würdest du darauf auch Mozart spielen wollen? Oder eher Brahms?

Ich bin kein Klavierfetischist. Ich verlange vom Instrument eigentlich nur, dass es sich nicht zwischen die Musik und den Interpreten stellt. Und ich nehme – wie es in Luzern der Fall war – mit Freude zur Kenntnis, wenn sein Klang darüber hinaus noch inspirierend wirkt. Das täte er bestimmt auch bei Mozart und Brahms! Doch mit einem schönen Klavier ist es wie mit einem feinen Auto: Man freut sich zwar daran, doch bleibt es in erster Linie ein Transportmittel.

Ist für dich das Klavier demnach ein Instrument, das dem Wortschatz entspricht, das einem Übersetzer zur Verfügung steht? Auch ihm nützt das reichhaltigste Vokabular nichts, wenn er daraus nicht jene Sätze formen kann, die denen des Autors im Original am nächsten kommen?

Was für eine schöner Vergleich!

Wechseln wir das Thema und kommen wir auf die mutmaßlich erste Gesamtaufnahme sämtlicher Klavierkonzerte mit einem Schweizer Solisten und einem Schweizer Orchester zu sprechen. Wie schweizerisch ist Ludwig van Beethoven?

Nun ja, so schweizerisch wie meine Interpretationen der Musik eines in Wien hängengebliebenen belgischstämmigen Komponisten aus Bonn.

Beethoven gilt wenn nicht als Revolutionär, so doch als zumindest aufsässiger Solitär. Ist das nicht das Bild, das sich auch mancher Schweizer gern von sich selbst macht: Ich gegen den Rest der Welt. Findest du darin etwas in Beethovens Musik?

Beethoven sympathisierte früh mit den aufklärerischen Idealen der französischen Revolution, die ja durch die Schriften Rousseaus auch etwas Schweizerisches hatten. Dass man zu Beethovens Zeit die Schweiz bereits als Willensnation bezeichnete, glaube ich zwar nicht. Aber unser Land bezieht – abgesehen vom Fußball und Federer – seine Identität aus dem erfolgreichen Versuch, einen kulturellen Flickenteppich unter dem Dach eines auf direkter Demokratie, Föderalismus und Humanismus basierenden Staatenbundes zu vereinen. Die Schweiz gründet kulturell auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner und schafft, als fragile Willensnation, trotzdem größtmögliche politische und wirtschaftliche Stabilität. Dass sich eine solche nationale „Identität des Willens“ gleichsam aus einer gewissen Abgrenzung gegen außen ergibt, scheint mir volkspsychologisch nachvollziehbar. Wenn Du also Beethovens „Ich-gegen-den-Rest-der-Welt“ ansprichst: Die Parallelen sind offensichtlich, auch wenn man ein Staatengebilde kaum mit einem Komponistengenie vergleichen kann. Auch die Europäische Idee, von der wir Schweizer uns so beharrlich abgrenzen, basiert auf denselben aufklärerischen und humanistischen Idealen. Beethovens Vertonung „An die Freude“ – notabene aus der gleichen Feder wie unser Wilhelm Tell – ist nicht ganz zufällig zur Hymne des Vereinten Europa geworden. Mit anderen Worten: Für mich hat Beethovens Werk sowohl etwas Schweizerisches als auch etwas Europäisches.

Beethovens persönlicher Bezug zur Schweiz ist gering. Er hat die Schweiz nie besucht und – anders als etwa Schiller – auch nie Interesse daran bekundet, weder an der Landschaft noch an der Geschichte dieses von Bonn und Wien weit entfernten Landes. Nicht er, sondern ausgerechnet der leichtlebige Bonvivant Rossini, dessen Erfolg Beethoven mit Argwohn verfolgte, hat das Freiheitsdrama Wilhelm Tell vertont. Beethoven hat sich stattdessen mit dem Fidelio an einer eher unglaubwürdigen Geschichte um kostümierte Gattentreue abgearbeitet. Es gibt dann noch die eher unerfreuliche Auseinandersetzung mit seinem Zürcher Verleger Nägeli. Mehr Schweiz gibt es in Beethovens Leben nicht.

Mir fällt neben Nägeli höchstens noch der Luzerner Komponist Franz Schnyder von Wartensee ein, der in Wien Beethovens Bekanntschaft machte und dessen widersprüchliche Persönlichkeit in seinen Memoiren ziemlich ausführlich beschrieb. Und dann gibt es ja noch ein harmloses Frühwerk für Klavier, die Variationen über ein Schweizer Lied. Wie Bach ist auch Beethoven kaum gereist. Natürlich wäre mir die Vorstellung lieb, er hätte wie Mozart, Mendelssohn, Liszt, Brahms, Wagner, Tschaikowsky, Rachmaninoff oder Bartók die Schweiz bereist.

Dafür zog er innerhalb von Wien ständig um. Ein unsteter Geist, dessen einzige Beständigkeit die Produktion von Musik war? Nebenbei: Wie wichtig ist Dir die Kenntnis der Autobiografie der Komponisten, die du spielst? Entspricht die romantischere Spielweise früherer Interpreten dem romantisch geprägten Bild von Komponisten? Und die modernere, die sich den Anschein des Originalklangs gibt, dem sachlicheren Bild? Dem Bild von Künstlern, denen der Stempel des Genies zu Lebzeiten noch nicht auf der Stirn klebte, sofern sie nicht Wunderkinder (gewesen) waren?

In der Tat war Beethoven ein unsteter, schwieriger Charakter. Übrigens könnte man noch den Alkoholkonsum als weitere Beständigkeit nennen. Ein großes Kunstwerk führt meiner Ansicht nach ein Eigenleben, erklärt sich aus sich selbst, ist also unabhängig von der Biographie ihrer Schöpfer zu betrachten. Um aber eine künstlerische Entwicklung wie diejenige Beethovens ansatzweise verstehen zu lernen, hilft die Kenntnis der Biographie und des historischen Umfelds sehr wohl. Man lese nur das „Heiligenstädter Testament“ von 1802 und führe sich vor Augen bzw. Ohren, welchen Prozessen seine Kunst zur gleichen Zeit unterworfen war. Ob die großen Pianisten früher „romantischer“ gespielt haben? Wenn, dann weil sie entweder Kinder der romantischen Musikepoche oder von solchen ausgebildet worden waren. Aber bestimmt nicht aufgrund eines Komponisten-Klischees.

Welche Rolle spielt es, die fünf Klavierkonzerte mit den Luzernern zu spielen? Es gab ja auch Vor-Konzerte in kammermusikalischer Besetzung etwa auf dem Pilatus, also in dünner Luft 2118 Meter über Meer.

Es war mir bei der Planung des Zyklus ein zentrales Anliegen, die Werke kammermusikalisch mit den Stimmführern des LSO entwickeln zu können, gewissermaßen von „innen heraus“. Wir haben zwar nicht bei Pontius angefangen, aber auf dem Pilatus ein spezielles Höhentraining absolviert und an drei aufeinanderfolgenden Wochenenden alle Klavierkonzerte im Sextett gespielt, garniert mit Klaviersonaten und -trios. Von der Intendanz über das Orchesterbüro über den Dirigenten und die Orchestermusiker bis hin zum Orchesterwart haben alle am gleichen Strang gezogen und zum Gelingen beigetragen. Schließlich nahm auch die Öffentlichkeit großen Anteil am Beethoven-Projekt, der Flügeltransport auf den Pilatus per Helikopter war sogar Thema in den Pendlerzeitungen und in den News des Schweizer Fernsehens. Ich wüsste nicht, wo ein Projekt wie dieses außer in Luzern, dieser musikalischen Welthauptstadt, hätte gestemmt werden können.

War Beethoven ein Gipfelstürmer oder war er nie woanders als auf dem Gipfel?

Es ist verlockend, Beethovens unfassbares Lebenswerk mit der monumentalen Erhabenheit der Schweizer Berge zu vergleichen. Aber es ist ein Klischee, das ich wirklich nicht bedienen möchte.

Welchen Rang nehmen die Klavierkonzerte deiner Meinung nach in seinem Schaffen ein? Es gibt ja kein anderes Instrument außer dem Konzert für Violine und Orchester, für das er Solokonzerte geschrieben hat.

Nicht zu vergessen das wunderbare Kuriosum Tripelkonzert. Vergleicht man Beethoven mit anderen Komponisten, so ist er jener, der den größten Entwicklungsprozess durchlaufen hat. Von seinen Hauptgattungen bietet das Klavierkonzert gewissermaßen Anschauungsmaterial unter dem Vergrößerungsglas: Zwischen den fünf Werken von op. 15 bis op. 73 liegen bloß vierzehn Jahre, weshalb uns die Entwicklungssprünge besonders eklatant erscheinen.

Es gibt eine deutliche Zäsur zwischen dem zweiten und dritten Konzert. Kann man sagen: Weg von Mozart und Haydn, hin zu Beethoven?

Ja, persönlich empfinde ich bei den ersten beiden Konzerten eher die Nähe von Haydn, zumal in den Ecksätzen. Die langsamen Sätze entziehen sich solchen Vergleichen, sie künden bereits vom späten Beethoven. Das Dritte, in der „Schicksalstonart“ c-Moll, ist für mich das mozartischste. Hier wird der „Moll-Mozart“, dem Beethoven seine größte Bewunderung entgegenbrachte, beschworen und transzendiert.

Verglichen mit den sehr persönlichen, immer intimer werdenden Klaviersonaten, sind die Konzerte gewissermaßen das Gemeinschaftswerk vieler Ausführender: der Komponist gibt dem Pianisten eben so viel Raum wie dem Orchester.

Das „Concertare“, der musikalische Widerstreit zwischen Soloinstrument und Orchester, wie ihn Haydn und Mozart noch hauptsächlich pflegten, ersetzt Beethoven sukzessive durch die Idee des Primus inter Pares: Der „Held“ stellt sich in den Dienst eines höheren (symphonischen) Ideals, was ihn gleichsam – wie den archetypischen Freiheitskämpfer – zur Identifikationsfigur macht.

Wovon befreit er sich? Wogegen kämpft er an? Nochmals: Ist also doch Tell in Beethoven?

Klar! Mit einem entscheidenden Unterschied: Der Habsburger Gessler wurde befördert (von Tell ins Jenseits), Beethoven gefördert (vom Habsburger Erzherzog Rudolph mittels finanzieller Zuwendungen).

Das letzte Klavierkonzert schrieb Beethoven in den Jahren 1808/09, also fast zwanzig Jahre vor seinem Tod 1827. Lag es an der fast vollständigen Taubheit, dass auf diesem Gebiet kein Werk mehr folgte? Wollte er demnach nur noch vertonen, was er – mehr schlecht als recht – noch hören konnte, also Streichquartette, Sonaten und Sinfonien? Da er die Musik ja nicht erst hörte, wenn er sie niederschrieb, wären weitere Konzerte möglich gewesen. War die Gattung für ihn ausgereizt?

Deine Vermutungen teile ich unbedingt. Die Gattung war für Beethoven – und auch für die nachfolgende Komponistengeneration – ausgereizt. Er hatte ihr seinen Stempel aufgedrückt durch Mittel persönlicher Art, jedoch innerhalb der formalen Konzeption, die Mozart geprägt hatte. Er erweiterte die Grenzen, entwickelte aber keine neue Konzeption, wie er sie der Sonate angedeihen ließ. Die Symphonie, das Streichquartett und die Klaviersonate sollten sein Tummelfeld für Bahnbrechendes bleiben – seine Konzerte hingegen sind viel mehr ihrer Zeit verpflichtet, sie sind „Gebrauchsmusik“ für den Virtuosen, der er damals war. Brahms war vierzig Jahre später der erste, der sich der Herausforderung stellte und mit seinem 1. Klavierkonzert die würdige Nachfolge antrat. Mendelssohn, Schumann oder Liszt hatten der Entwicklung des Instrumentalkonzerts zwar ebenso neues Leben eingehaucht, aber ihre Lösungen entsprachen einer ganz neuen, romantischen Ästhetik, die sich von Beethoven bewusst abgrenzte.

Wann hast du die Klavierkonzerte von Beethoven zum ersten Mal gehört? Kannst Du Dich an den Eindruck erinnern, die sie auf dich gemacht haben?

Ich bin als ganz kleiner Junge mit den Klavierkonzerten in Berührung gekommen. Meine Eltern entdeckten die Werke gerade auch für sich, die Schallplatten mit den Aufnahmen von Arthur Rubinstein drehten sich über die Jahre unendlich oft. Mein Wunsch, Klavier zu lernen, kam mit der Liebe zu genau diesen Klängen. Und meine Motivation als Klavierschüler bezog ich ebenfalls aus dem Wunsch, die Werke eines Tages selber spielen zu können. Mein erstes Live-Erlebnis hatte ich in der Zürcher Tonhalle mit Claudio Arrau, der das Vierte unter Paul Sacher spielte. Damals hatte ich mich bereits begeistert durch die Aufnahmen Leon Fleishers gehört, mit dem Cleveland Orchestra unter George Szell. Mein Wunsch, eines Tages Fleishers Schüler zu werden, hatte also auch maßgeblich mit diesem Repertoire zu tun.

Wie wichtig war es, älteren Interpretationen, von denen es ja unzählige gibt, zu hören und sich womöglich sogar persönlich mit Pianisten auseinanderzusetzen, die einer anderen Generation angehören?

Ich zähle nicht zu den Musikern, die aus Prinzip auf das Anhören anderer Interpretationen verzichten. Oft wird damit argumentiert, dies könnte die eigene Auseinandersetzung mit dem Werk und das Finden von eigenen Lösungen empfindlich stören. Ich bin viel zu neugierig und probiere überzeugende Ideen auch mal gerne selber aus um herauszufinden, was diese mit mir machen. Im übrigen wäre nur schon der Versuch, sich eine fremde Interpretation anzueignen in etwa so erfolgreich wie der Versuch, eine fremde Handschrift zu fälschen. Gerade die Beethoven-Rezeptions- bzw. Interpretationsgeschichte ist für mich von größtem Interesse. Sich mit Schnabels, Fischers oder Kempffs Beethoven auseinanderzusetzen, ist eben auch eine Art des historischen-Informiertseins, finde ich. Und es ist für mich ein Privileg, mich mit Persönlichkeiten wie Fleisher, Paul Badura-Skoda oder – wie zuletzt – mit Stephen Kovacevich über Beethoven auszutauschen und von ihrer langen Erfahrung profitieren zu dürfen.

Wie muss ich mir einen solchen Austausch vorstellen? Habt ihr gewisse Stellen durchgenommen oder eher „ganzheitlich“ über die Werke gesprochen?

Beides. Mit meinen Lehrern Homero Francesch und Leon Fleisher habe ich die Werke erst gelernt im Studium. Badura-Skoda hat mich auf editorische Einzelheiten und somit die „gängigsten“ Fehler aufmerksam gemacht sowie Beethovens Pedalanweisungen wunderbar kommentiert. Und Kovacevich habe ich in London aufgesucht, wo wir bei ihm zuhause am Fünften arbeiteten, das ich nicht nur als das schwierigste Konzert Beethovens, sondern als eines der schwierigsten der Gattung überhaupt empfinde. Stephen erzählte mir beim anschließenden schönen Single Malt, Horowitz habe ihm dasselbe gesagt!

Als du Beethovens 5. Klavierkonzert unter Roger Norrington gespielt hast, saßt du mit dem Rücken zum Publikum vor den Orchestermusikern, in einer Aufstellung, die wohl als „historisch“ gilt. Wie sinnvoll und zweckmäßig sind solche Versuche, die Zeit zurückzudrehen? Im KKL saßt du dann wieder ganz „konventionell“? Wie wichtig ist eine solche Sitzordnung? Was verändert sie?

Die Aufstellung von damals gefällt mir, sie fördert die Durchhörbarkeit und die Interaktion mit dem Orchester, das einen in sein Rund aufnimmt. Sir Roger agierte direkt in meinem Blickfeld am anderen Ende des deckellosen Flügels. Ein kammermusikalisches Tete-à-tete, das ich sehr genoss! Ob diese Aufstellung oder auch das Tempo Viertel=74 bpm (beats per minute) für den 2. Satz, die mir Sir Roger abverlangte oder die Triller, die er allesamt von der oberen Nebennote angefangen wünschte: Es interessiert mich, solche Ansätze auszuprobieren, auch wenn ich sie danach wieder verwerfe. Ob ich aber nur deswegen historisch informiert oder politisch wie auch immer korrekt spiele, ist mir nicht so wichtig. Dasselbe gilt für den Orchesterklang ohne jedes Vibrato: Für mich sind diese Regelwerke eher Äußerlichkeiten – was zählt, ist die farbige Lebendigkeit, die ein Dirigent wie Roger Norrington im Moment des Erklingens einem Werk einzuhauchen vermag.

Wer üblicherweise einen Steinway spielt, den bringt man nicht ohne weiteres mit „historisch informierter Aufführungspraxis“ (wie es so unschön heißt) in Verbindung. Ist dir diese dennoch wichtig? Oder lässt einen das, was in den letzten Jahrzehnten auf diesem Gebiet geschehen ist, unbeeinflusst?

Aber natürlich ist die Beschäftigung mit den großen Errungenschaften der historisch informierten Aufführungspraxis unerlässlich für den heutigen Musiker! Der Interpret, der seine künstlerischen Freiheiten nutzt, um dem Komponisten zu „helfen“ –„support the composer!“, wie uns Leon Fleisher immer wieder sagte – muss durch intensives Quellenstudium seinen Aktionsradius kennengelernt haben und immer wieder neu justieren. Ich betrachte mich durchaus als „historisch informierten“ Musiker, lege aber keinen Wert auf dieses Etikett.

Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass es Dir ein besonderes Anliegen wäre, Beethoven auf einem historischen Instrument aus der Entstehungszeit zu spielen.

Keineswegs. Aber interessant wäre das bestimmt!

Was ist wichtiger: das richtige Tempo oder die „richtigen“ Instrumente?

Das Tempo, ganz klar. Das Wissen über Instrumentarium, Stimmton und Stimmungssysteme, Ensemblegrößen, das Vibrato, Metronomangaben und alle anderen musikhistorischen Parameter ist so wichtig wie die Kenntnis der Biographie und des zeitlichen Kontexts eines Komponistenlebens. Wissen sollte aber nie dogmatisch sein und zur Denknorm degradiert werden. Große Kunst ist ein Kind ihrer Zeit, aber eben auch zeitlos und evolutionsfähig. Sie braucht nicht geschützt zu werden vor dem Zugriff durch das Hier und Jetzt, nein: sie lebt nur im Hier und Jetzt, ob nun auf 415 oder 443 Hz.

Ein Kritiker meinte nach der Aufführung in Luzern, nie zuvor sei das Orchester dem Anspruch, auf modernen Instrumenten historisch informiert zu spielen, so gerecht geworden wie mit diesem Pianisten. Hatten der Dirigent James Gaffigan und der Pianist Oliver Schnyder zu Beginn des Arbeitsprozesses eine bestimmte Vorstellung, die in diese Richtung ging?

Nein, darüber haben wir nicht einmal gesprochen. Wir haben mit der neuen Gesamtausgabe von Breitkopf & Härtel gearbeitet, ich habe zusätzlich noch Jonathan Del Mars Edition, die kürzlich bei Bärenreiter erschienen ist, beigezogen und die vielen neuen Erkenntnisse im Klavierpart berücksichtigt, die zum Teil stark von dem abweichen, was „man“ kennt.  

Du hast an zwei Abenden je zwei Konzerte, an einem Abend ein Konzert gespielt. Das ist nicht nur eine enorme körperliche Leistung. Wie war Deine Verfassung?

Ehrlich gesagt: Ich kann mich nicht erinnern! Ich vergesse nach jedem Auftritt, dass sich die Wartezeit am Konzerttag endlos anfühlt. Zum Essen muss man sich regelrecht zwingen, weil der Körper auf Flucht konditioniert ist. Ich vergesse auch die unerwünschten Gedankenspiele, in denen es darum geht, was auf der Bühne alles schiefgehen könnte, den Erwartungsdruck, den Fatalismus, in den man sich fügen muss, um dem Fluchtimpuls nicht nachzugeben. Woran ich mich immer erinnere, auch nach Jahren, sind Fehler und Dinge, die mich während des Konzerts gestört haben. Was mir gemäß meinem eigenen Maßstab nicht gelungen ist, ritzt sich in meinem Langzeitgedächtnis wie ein Kratzer auf einer Schallplatte ein. Deshalb ist es schön, nun eine Aufnahme zu haben, die mich – sollte ich sie mir wider Erwarten irgendwann wieder einmal anhören – daran erinnert, dass es durchaus auch Gelungenes gegeben hat, weil man Fehler nachträglich korrigieren kann. Was die körperliche Anstrengung angeht: Ich habe das große Glück, für das Klavierspiel eine sehr günstige Konstitution zu haben. Körperliche Ermüdung beim Spielen kenne ich, sofern ich gesund bin, nicht (fasst Holz an). Jetzt wo wir uns unterhalten, knapp einen Monat nach den Konzerten, erinnere ich mich eigentlich nur an eine große Beethoven-Blase voller Energie, in der ich mich wohl gefühlt habe, wie in einem „Flow“.

Nun kann man sich natürlich fragen, wie sinnvoll es ist, sich angesichts der unübersehbaren Flut von Aufnahmen dieser Klavierkonzerte eine weitere hinzuzufügen.

Ja, kann man, muss man sogar. Die Regale der Plattensammler sind zum Bersten voll. Aber die Frage treibt mich nicht um. Jede aufrichtige Beschäftigung, jeder Versuch einer interpretatorischen Annäherung ist doch der Beweis, wie brennend aktuell das Werk Beethovens ist. Das Prozesshafte, das Werden, das „Sich-nicht-genügen“ und Weiterstreben, das Ringen um den „anderen“ Bewusstseinszustand, der uns Hörern ungeahnte seelische Erfahrungen vermittelt, das ist es, was jeden Zweifel um ein Vielfaches aufwiegt.

Muss der, der das Wagnis einer Gesamtaufnahme auf sich nimmt, eine Botschaft haben oder genügt der Drang zu musizieren?

Die Musik selber ist Bote und Botschaft. Der Interpret macht hörbar, was er in seiner Arbeit über den Boten für sich in Erfahrung gebracht hat. Die eigentliche „Botschaft“ kristallisiert sich darin. Und hier befinden wir uns bereits in der Unbeschreibbarkeit oder Unbeschreiblichkeit des subjektiven Erlebens. Selbstverständlich glaube ich, „die“ Botschaft zu kennen, und ich bemühe mich, sie dem Hörer zu vermitteln, während ich gleichzeitig die Kontrolle darüber aus der Hand gebe.

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